Karin Pliem‘s Symbiotic Unions als holobiontische Stillleben*.

Das Stillleben heute ist kaum noch still. Über fast vier Jahrhunderte hinweg hatte dieses Genre als bedachtsam komponierte „Natura Morta“ – tranquillo e pensieroso – an die Vergänglichkeit des Lebens, der Dinge und all unseres Strebens gemahnt. Dass dann die Bilder laufen lernten und forthin – accelerando – von Filmleinwänden über Röhrenfernseher, Video- und Flatscreens bis auf jedes mobile Display hüpften, auf dem wir sie heute manuell wischend voran und – presto possibile – wieder weg von uns treiben …, mag wesentlich dazu beigetragen haben, dass Transitorik auch ins Stillleben einzog. Unruhe in jenes kontemplative Feld der Interpretation natürlicher und artifizieller Produkte dürfte aber auch der (natur-)wissenschaftliche Wandel unseres Weltbilds gebracht haben. Wenn etwa Salvador Dalí 1956 die vielleicht erste Nature morte vivente1 malte, tat er dies explizit vor dem Hintergrund des Wissens um die Bewegung der Atome, welche millionenfach und permanent in jedem – uns als unbewegt erscheinenden – Gegenstand stattfindet. Etwa 60 Jahre später gab Karin Pliem zwei ihrer Bilder den sinngemäß selben Titel,2 nicht aber als Hommage an Dalí, sondern vor dem Hintergrund der jüngeren Erkenntnis, dass (höhere) Organismen in jeder Zustandsform – vivente wie auch morte – als Holobionten3 zu erachten sind: Jede Tulpenblüte, jeder Pfirsich, jede Auster … fügt sich aus unzähligen Lebewesen – vor allem Mikroorganismen – zusammen, die sich permanent in innigster Gemeinschaft und Wechselwirkung sowohl untereinander als auch mit anderen Lebewesen befinden. Symbiotische Verbindungen gelten in den Biowissenschaften heute daher als mindestens ebenso wichtig für die Evolution und Verbreitung des Lebens wie Mutation, Rekombination und Selektion. Eine stets im Flux befindliche „symbiotische Union“ aller Bewohner unseres Planeten erachtete die US-amerikanische Genetikerin und Zellbiologin Lynn Margulis bereits in den 1990er Jahren als Triebfeder der Evolution.4 Sollte dieses Prinzip eines letztlich konstruktiv-produktiven Miteinanders unterschiedlicher Lebensformen und -welten nicht auch für das menschliche Individuum vorteilhaft sein – sowohl seinen eigenen sozial-politischen Kontext betreffend als auch das Verhältnis zu dem, was der Mensch als seine „Umwelt“ beschreibt? „Umwelt“ wäre dann nicht das, was – expressis verbis – um uns herum und damit zugleich von uns be- und abgesondert ist, sondern es wäre Kontext und Teil von uns selbst und vice versa.

Diesen Gedanken verfolgt die viel reisende und dabei stets die Natur erkundende Künstlerin Karin Pliem bereits seit vielen Jahren. Ihrer neuesten Werkgruppe gibt sie – frei nach Lynn Margulis – den Übertitel Symbiotic Unions. Hier wie auch schon zuvor ist die nature in ihrer Malerei nur selten morte und niemals still, sondern höchst lebendig im Detail wie auch im Ganzen im Sinne einer alle Komposition durchziehenden Transitorik. Bildtitel wie Drammatico alla turca (2016), Sinergia in conflitto (2015), Grazioso con ortensia e siluro (2014) oder Misterioso con bravura (2013) geben in der Art musikalischer Vortragsbezeichnungen Hinweise auf die Dynamik des jeweiligen modus vivendi ebenso wie auf geografisch-kulturelle Bild-Hintergründe (so verweisen etwa „… alla turca“ oder „Serraglio …“ auf bildliche Zusammenhänge mit türkisch-osmanischer Architektur) oder auf bestimmte botanische bzw. animalische Bild-Akteure („… con tulipa crispa“, „… siluro“ etc.). Diese Akteure rekrutieren sich häufig aus Arten, deren Genese, Verbreitung oder auch Gefährdung auf menschliche Einflüsse zurückzuführen ist (Neobiota, transgene Pflanzen, invasive und bedrohte Arten …) oder die kulturgeschichtlich eine bedeutsame Rolle spiel(t)en (als Nahrungs-, Heil- oder Suchtmittel, Rohstoffquelle, Handelsware …). So treten etwa Mais, Mohn, Kokosnuss, Kudzu, Erbsenblüte, Lotosblume, Garnele, Wels und Tintenfisch … in Karin Pliems gemalten Biotopen immer wieder auf, wenn auch nicht immer als Hauptakteure und schon gar nicht im immer selben Kostüm. Denn auch der Malerei Karin Pliems liegt Transformation als ein Prinzip zugrunde, das hier also auf permanenten Symbiosen und Mutationen der Farben und Formen beruht und so lange neuartige Kreationen und Konstellationen hervorbringt, bis irgendwann der Prozess des Bildgenerierens den Punkt einer jeweils gelungenen „symbiotischen Union“ aller Protagonist/innen erreicht hat. Bei der Betrachtung eines solcherart zum Finale gebrachten Bildes können sich Empfindungen etwa folgender Art einstellen: „… Blüten, die wirbelnde Farbblütenfächer bilden, Farbstrudel, in einen Sog aus farbigem Gewoge mündend, … und fast wäre man versucht, in dieser Malerei mitsamt dem ganzen Körper in einer Gischt aus Farben und taktilen Reizen zu verschwinden …“5 Ein Einstieg der Betrachter/innen ins Bildgeschehen ist von der Künstlerin auf jeden Fall erwünscht, ja sie rechnet offenbar damit, indem sie nämlich Homo sapiens sapiens – gleichwohl er dem pliemschen Natur-Bildkosmos ebenso zugehören sollte wie Drosera, cigno und maiale – aus ihren Bildern ausspart. Wie im klassischen Stillleben auch taucht in Symbiotic Unions der Mensch nicht auf. Allein sein Totenschädel – Vanitas? Memento mori? – mag sich dann und wann finden,6 so wie sich auch kulturelle Artefakte – Architekturfragmente etwa, eine afrikanische Maske7 oder eine manieristische Skulptur aus dem Sacro Bosco von Bomarzo – da und dort zwischen und unter all jenen Pflanzen- und Tierhybriden entdecken lassen, die die Künstlerin aus ihren ursprünglich real oder auch virtuell und jedenfalls weltweit gefundenen Vor-Bildern während des Malprozesses generiert hat. Solcherart menschliche Artefakte fungieren ihr als Stellvertreter von Anthropos, der erst lernen und begreifen muss, dass er (als Holobiont) selbst Bestandteil jener realen „symbiotic union“ ist, die auch „Natur“ genannt wird. Der Einstieg in Karin Pliems Bilder – con passione – könnte ihm dabei behilflich sein.

1 Salvador Dalì, Nature Morte Vivente (Still Life—Fast Moving), 1956, Salvador Dalí Museum, St. Petersburg, Florida, s. http://archive.thedali.org/mwebcgi/mweb.exe?request=record;id=138;type=101.
2 Natura morte vivente, 2015 (s. www.karinpliem.at/werke.asp?id=H.211) und Natura morta vivente II, 2016 (s. www.karinpliem.at/werke.asp?id=I.225).
3 Norbert Lossau, „Wir sind nie allein. Nicht mal im eigenen Körper“, in: Welt.de, 01.05.2015, www.welt.de/kultur/literarischewelt/article140354029/Wir-sind-nie-allein-Nicht-mal-im-eigenen-Koerper.html.
Die US-amerikanische Naturwissenschaftshistorikerin und Biologin Donna Haraway sagt in diesem Sinn: “We are all lichens now. We have never been individuals. From anatomical, physiological, evolutionary, developmental, philosophic, economic, I don’t care what perspective, we are all lichens now.” Donna Haraway, “Anthropocene, Capitalocene, Chthulucene: Staying with the Trouble“, in: Anthropocene: Arts of Living on a Damaged Planet, 05/09/2014, http://opentranscripts.org/transcript/anthropocene-capitalocene-chthulucene/. [Anm.: Die Flechte (Lichen) wächst und formiert sich ausschließlich in symbiotischer Lebensgemeinschaft zwischen einem Pilz (Mykobionten) und einem oder mehreren Photosynthese betreibenden Partnern (Photobionten).]
4 Lynn Margulis, Die andere Evolution (aus dem Englischen von Sebastian Vogel), Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag 1999.
5 Kurt Kladler, „Inscapes“, in: Karin Pliem, Symbiotic Unions, Hohenems-Vaduz-Wien: Bucher 2016, S. 33.
6 Zum Beispiel in Symbiotic Unions I, 2016, links unten. (s. www.karinpliem.at/werke.asp?id=I.226) S. hier Abb. S. 83.
7 Ebda, ganz unten mittig.

* Aus: Museum moderner Kunst Kärnten (Hg.), Unheimlich schön. Stillleben heute, Klagenfurt 2017, S. 78-80.
ISBN 978-3-9503572-6-4

© 2017 Lucas Gehrmann; MMKK