Der Titel dieses Buches – und zugleich auch derjenige einer 2016 begonnen Werkgruppe Karin Pliems – ist einer naturwissenschaftlichen Debatte um die Entstehung der Artenvielfalt und die natürliche Selektion entlehnt. In ihrem 1998 erschienenen Buch Symbiotic Planet: A New Look at Evolution1 kam die US-amerikanische Genetikerin und Zellbiologin Lynn Margulis zu dem Schluss, dass „sämtliche Bewohner unseres Planeten einer symbiotischen Union angehören“.2 Ausgehend von ihrer schon Ende der 1960er Jahre vorgelegten Seriellen Endosymbiontentheorie3 konstatierte sie, dass die treibenden Kräfte hinter der Evolution weniger zufällige Mutationen und der Wettkampf unter den Individuen seien als das Zusammenwirken zwischen den Organismen und ihrer Lebensumwelt – „Darwins große Vision war nicht falsch, aber unvollständig“.4 Obwohl Margulis mit ihren Thesen nicht allein war, werden einige ihrer Gedanken ausgesprochen kontrovers diskutiert.5
Wäre Karin Pliem Biologin, würde sie sich vielleicht den Vertreter/innen dieser „anderen Evolution“ anschließen; als Künstlerin und privatisierende Natur(er)kundlerin sympathisiert sie zumindest mit der Vorstellung, dass nicht allein individuelle Mutation, Rekombination und Selektion die Entstehung und Verbreitung von Lebewesen bestimmen, sondern eben auch symbiotische Verbindungen – in einem weiteren Sinne also über Kommunikation bewirkte Kooperationen. Diese und vielleicht noch weitere Formen des Austauschs passieren nämlich – schon lange bevor die Malerin von Lynn Margulis‘ Theorie gehört hat – auf ihren Bildern. Sie „passieren“ eigentlich ihr selbst, und zwar im Prozess des Malens – ein Prozess, in dessen Zuge sich Bestehendes und Entstehendes gleichsam im Sinne von Rückkopplungen6 permanent verwandeln. Dieser Weg zu einer zuletzt und pro Bild entstehenden „symbiotic union“ sei hier im Folgenden skizziert.
Ob am Anfang des Bildes das Konzept oder das (visuelle) Material steht, kann ähnlich wie die Frage nach der Henne oder dem Ei nicht befriedigend beantwortet werden. Beides ist hier jedenfalls schon vorhanden: ein im Wesentlichen stabiles Konzept und ein im Wesentlichen homogener Fundus an Ausgangsmaterialien. Dieser sich stets erweiternde Fundus besteht aus einer Sammlung ausgewählter, realer und virtueller (bildlich reproduzierter oder erinnerter) pflanzlicher, tierischer und – seit einigen Jahren – anthropogener Versatzstücke. Deren Selektion orientiert sich nicht allein an subjektiv-ästhetischen Kriterien auf Basis eines „interesselosen Wohlgefallens“, sondern vor allem an jenem Teil ihres Konzepts, das künftige Bild-Komponenten bevorzugt, die gleichsam exemplarisch die komplexe Vielfalt der Beziehungsmöglichkeiten zwischen natürlichen und zivilisatorisch-kulturell generierten Kreationen repräsentieren.
Aus Karin Pliems umfangreicher Sammlung solcher Repräsentations-Exemplare seinen hier zwei herausgegriffen, die an ihrem 2015 entstandenem Bild Concursus naturae IV [Abb. S. 15] wesentlichen Anteil haben. Die dort von links oben und von der Bildmitte bis zum rechten Rand herabhängenden blauen Blütenstände sind freie Interpretationen7 des Schmetterlingsblütlers Pueraria montana, besser als Kudzu bekannt. In China dienten seit der Jungsteinzeit die aus ihrem Stängel gewonnenen Fasern maßgeblich der Textil- und später auch Papierproduktion; in Japan sind ihre stärkehaltigen Wurzelknollen noch heute ein Hauptnahrungsmittel; Kudzu gilt zudem als wirksames Heilmittel gegen Alkoholsucht und soll künftig auch zur Bioethanolgewinnung genutzt werden. Zugleich gehört Kudzu gemäß IUCN8 zu den weltweit 100 aggressivsten invasiven Neophyten: in wenigen Jahren kann diese Pflanzenart eine existierende Vegetation komplett überdecken und zerstören. Aufgrund solch mannigfaltiger Eigenschaften und Nutzungsmöglichkeiten kommt sie in Bildern der Künstlerin öfter zum „Einsatz“.
In dem hier vorliegenden Bild hat Kudzu zum Beispiel Anteil an der malerischen „Überwucherung“ eines zweiten, als exemplarisch zu nennenden (Bild-)Elements aus ihrer Materialiensammlung, dem Kreuzgang des im 12. Jhdt. errichteten Benediktinerklosters S. Maria Nuova in Monreale. Von dem sizilianischen König Wilhelm II. gegründet, zählt Monreale als ein Hauptwerk des normannisch-arabisch-byzantinischen Stils, als Symbiose also aus westlich-romanischer, oströmischer und islamischer Architektur und Ornamentik. Karin Pliem diente dieses Bauwerk – als ein beredtes Zeugnis für die Fruchtbarkeit grenz- und kulturüberschreitenden Wissenstransfers – als idealer Untergrund des hier genannten Ölbildes. Im Laufe des folgenden Arbeitsprozesses ist diese Architektur-Untermalung indes zusehends in den Hintergrund gerückt und bleibt am vollendeten Bild an nur mehr wenigen Stellen erahnbar. Betrachtet man aber die beiden hier als Textabbildungen [S. 9 und 12] wiedergegebenen, von der Künstlerin fotografisch dokumentierten Zwischenstadien der Bildgenese, wird deutlich, dass die Säulen und Bögen, die Nischen und bauplastischen Elemente dieses Kreuzgangs einen maßgeblichen Anteil an der Konstruktion und Komposition des Bildes hatten – womöglich auch an seiner sich aus den Setzungen von Licht und Schatten, Raumtiefen und Blüten-Konvoluten ergebenden Gesamtstimmung.
Nicht immer aber ist in Karin Pliems Bildern „reale“ Architektur als hintergründiges Hilfsgerüst vonnöten, um deren versteckt-konstruktiven Aufbau spürbar zu machen. Viel mehr sind es die einzelnen Bildelemente selbst, die sich im Zuge des Malprozesses so formieren und artikulieren, dass am Ende im Großen und Ganzen „Ordnung“ entsteht – im Sinne eben einer „symbiotic union“ aller beteiligten Kräfte.
So hat auch nicht nur der kleine Säulenwald von Monreale, sondern auch Kudzu im Vergleich zwischen dem Mittel- und Endstadium von Concursus naturae IV an Dominanz einiges eingebüßt. Andere Pflanzen, von denen einige schon im Frühstadium des Bildes aufgeblüht sind, konnten später – teilweise im Verbund mit neu entstandenen Vegetationen – ihre Position und ihr dynamisches Potenzial zurückerobern oder erst voll entwickeln. Auch das Licht, dass das signierte Bild an mehreren Stellen gleichsam von hinten durchdringt und dort durch Erzeugung größerer heller Flecken so etwas wie freie Flächen zur Passage von Farb- und Formtransfers zwischen einzelnen Regionen schafft, hat Kudzu mancherorts erblassen lassen. Wobei Kudzu – so wie andere Pflanzen (und Tiere) aus Karin Pliems Materialiensammlung auch – seine ursprüngliche Identifizierbarkeit mit einer botanisch-wissenschaftlich eindeutig bestimmbaren Art oder Gattung ohnehin aufgeben musste. Denn die Malerin verleiht ihren Sammlungs-Exemplaren während der Bildgenese eine je eigene, neue Identität. Sie schafft Hybride aus bestehenden Naturalien ebenso wie völlig eigenständige, in der Natur (noch) nicht vorkommende Kreationen. „(Noch)“ nicht, weil wir in einem Zeitalter leben, in dem es dem Menschen „mit Hilfe der modernen Gentechnik (zumindest theoretisch) möglich ist, die Evolution durch natürliche Selektion zu beenden. Mit wachsendem Wissen über die Evolutionstheorien könnte der Mensch eines Tages in der Lage sein, die Entwicklung aller Lebewesen nach seinem Willen zu steuern“.9 Nicht nur Gentechnolog/innen und Futurolog/innen folgen diesen Visionen mit Aufmerksamkeit, sondern auch Künstler/innen. So griff bereits zu Beginn der 1980er Jahre der US-amerikanische Bio-Art-Künstler Joe Davis neue Materialien auf, „die eine ‚Verlebendigung‘ des Kunstwerks im wahrsten Sinne des Wortes darstellten: zu lebender Biomasse“.10 Und der brasilianische Künstler Eduardo Kac schrieb Ende der 90er Jahre: „Die Molekulargenetik gibt dem Künstler die Möglichkeit, das pflanzliche oder tierische Genom zu manipulieren und damit neue Lebensformen zu kreieren. Die Natur dieser neuen Kunst wird nicht nur durch das Entstehen und Heranwachsen einer neuen Pflanze oder eines neuen Tieres bestimmt, sondern vor allem durch die Art der Beziehung zwischen Künstler, Öffentlichkeit und transgenem Organismus.“11
Karin Pliem kommt ohne Biomasse und Molekulargenetik und damit auch ohne aufwendige Forschungslaboratorien aus, um ihre, das im Anthropozän sich zusehends problematischer entwickelnde Verhältnis zwischen Mensch und lebendiger Natur betreffenden Ideen und Perspektiven zu vermitteln. Ihrer Auffassung nach ist der Mensch nichts mehr oder weniger als selbst ein Teil der Natur, auf welche Position er sich zuerst einmal zu besinnen habe, um mit ihr – und damit also auch mit seiner eigenen Spezies – in einen synergetisch wirksamen Dialog treten zu können. Über ihre ganz traditionell mit Leinöl, Farbe und auf Leinwand geschaffenen Bilder lädt sie uns ein, eine Welt der konstruktiven Kommunikation zwischen unterschiedlichsten Lebewesen einer polykulturellen Gesellschaft zu betreten. Der Mensch muss in diesen Bildwelten nicht „leibhaftig“-bildlich vertreten sein, denn er gliedert sich ihr als ein sie Betrachtender ohnehin ein. Allein in diesem Sinne schon sind Karin Pliems Natur-Betrachtungen nie „naturalistisch“. So könnte es auch ihre Intention nicht sein, im oben erwähnten Sinn der Bio-Art faktisch „neue Lebensformen zu kreieren“.
Die im vorliegenden Buch wiedergegeben, ab 2013 entstandenen Werke lassen Karin Pliems meiner Kenntnis nach sehr eigenständigen „Weg zur Abstraktion“, den sie seit spätestens 2010 eingeschlagen hat, ebenso erkennen wie ihr gleichermaßen sichtbares Bestreben nach einem jeweils in sich formal wie konzeptuell schlüssigen und letztlich „stimmigen“ Bild. Diese Intention konveniert wiederum mit jener der Evolution, Lebewesen zweckmäßig zu organisieren und funktional zu optimieren. So wie in einem Kunstwerk könne man auch bei Organismen „nicht ohne stärkste Beeinträchtigung einen Teil einfach wegnehmen oder austauschen“, schreibt Wolfgang Welsch in einer kritischen Untersuchung möglicher Parallelen zwischen künstlerischen und evolutiven Kreationen: „Die Ausrichtung der Kunstwerke auf Stimmigkeit ist der biotischen Tendenz zur Hervorbringung optimierter Gebilde durchaus analog. In diesem strukturellen Sinn ahmt die Kunst immer (auch dort, wo das traditionelle Darstellungsprinzip der Naturnachahmung längst verabschiedet wurde) die Natur nach. Nur liegt die Entsprechung nicht auf der generativen Ebene (wo evolutiv der Zufall wichtig ist), sondern auf der Produktebene (wo der Zufall gleichsam absorbiert ist).“12
So wie Karin Pliem symbiotische Verbindungen zwischen ihren aus unterschiedlichen Ökosystemen und Weltregionen stammenden oder auch selbst generierten Lebewesen im Zusammenwirken von konzeptuellen Überlegungen und dem malerischen Prozess „passieren“, so „passiert“ ihr auch der Moment, in dem ein Bild den für sie akzeptablen Punkt der „Stimmigkeit“ – und damit seine Finalisierung im Sinne einer „symbiotic union“ – erreicht hat. Da sie danach gleich mit dem nächsten Bild beginnt, gibt es in ihrer Welt nicht nur eine symbiotische Union, sondern deren viele. Weshalb dieses Buch auch Symbiotic Unions heißt.
1 deutsch: Lynn Margulis, Die andere Evolution (aus dem Englischen von Sebastian Vogel), Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag 1999.
2 Hier zit. nach Matthias Glaubrecht, „Die Biologin Lynn Margulis hält
Symbiose für die treibende Kraft in der Evolution“, in: Der
Tagesspiegel, 26. 1. 2000.
3 Vergl. Lynn Margulis, Origin of Eukaryotic Cells, New Haven: Yale University Press 1970. Weiterführende Hinweise s. z.B.: Ulrich Kutschera, „Lynn Margulis:
Symbiogenesis-Theorie und Anti-Darwinismus“, in: Biologie in unserer Zeit 42 (1), Weinheim 2012, S. 67-70,
www.evolutionsbiologen.de/media/files/pdfs/wuerdigungen/2012Kut_BIUZ_Margulis.pdf.
4 “Darwin’s grand vision was not wrong, only incomplete.” Aus: “Lynn Margulis: Microbiological Collaboration of the Gaia Hypothesis”, in: The Gaia Hypothesis,
proposed by Dr. James Lovelock in collaboration with Dr. Lynn Margulis,
section 3, Web Publication by Mountain Man Graphics, Australia 1996,
http://mountainman.com.au/gaia_lyn.html
5 „Während die Endosymbiontentheorie heute kaum noch jemand ernsthaft
bezweifelt, ging Margulis‘ Engagement für die GAIA-Hypothese des
britischen Atmosphärenchemikers James Lovelock vielen Fachkollegen doch
zu weit. […] Seine Metapher von der Erde als ‚lebender Organimus‘ hat
Margulis selbst allerdings vermieden. Als Wissenschaftlerin hat sie es
bedauert, dass die GAIA-Hypothese vor allem von Esoterikern begeistert
aufgenommen wurde, während Kollegen überwiegend ablehnend reagierten.“
Ralf Neumann, Christine Kost, „Lynn Margulis: Nachruf und Interview“,
in: Laborjournal, 24. Nov. 2011, www.laborjournal.de/blog/?p=3870.
6 „Ein Aspekt, den Darwin noch nicht erkannt hatte, ist, dass die
Evolution ein von Rückkopplungen beeinflusster Prozess ist. Das heißt,
dass die Lebewesen
sich nicht nur an ihre Umwelt anpassen, sondern sie auch verändern. Und
das schon allein durch ihre bloße Existenz. Der Rückkopplungseffekt
besteht dann darin,
dass sich die Lebewesen erneut an die veränderte Umwelt anpassen
müssen. Der Einfluss der Lebewesen ist von Art zu Art unterschiedlich.“
Schöneburg, E.; Heinzmann, F.;
Feddersen, S.: Genetische Algorithmen und Evolutionsstrategien. Bonn, Paris: Addison-Wesley 1994. Hier zit. aus: Mirko Wölflick, Evolution als Optimierungsprozess,
TU Chemnitz 2002, www.tu-chemnitz.de/informatik/ThIS/downloads/courses/ss02/es/woelflick.pdf.
7 Die hängenden Blütenstände erinnern zunächst an den (giftigen)
Blauregen (Glyzine). Die Künstlerin lässt die Kudzu-Blüten aber hängen,
weil dies für die Bildidee die bessere Lösung ist.
8 IUCN – International Union for Conservation of Nature hat
die Aufgabe, weltweit auf die Gesellschaft Einfluss zu nehmen, damit die
Integrität und Diversität der Natur respektiert werden. Zudem engagiert
sie sich für einen ökologisch nachhaltigen und gerechten Umgang mit den
natürlichen Ressourcen. https://www.iucn.org/.
9 Schöneburg, E. et al., op. zit. Anm. 6
10 www.medienkunstnetz.de/themen/cyborg_bodies/transgene_koerper/8/
11 Eduardo Kac, „Transgene Kunst“, in: Gerfried Stocker/Christine
Schöpf (Hg.), LifeScience. Ars Electronica 99, Wien/New York 1999, S.
296.
12 Wolfgang Welsch, „Kreativität durch Zufall. Das große Vorbild der Evolution und einige künstlerische Parallelen“, in: Kreativität – XX. Deutscher Kongress für Philosophie,
Kolloquienbeiträge, Hamburg: Meiner 2006, S. 1185-1210.
* Publ. in: Karin Pliem: Symbiotic Unions, Hohenems–Wien–Vaduz: Bucher Verlag 2016, S. 7-11 (d). ISBN 978-3-99018-387-8
© 2016 Lucas Gehrmann; Bucher Verlag