So wie der chinesische Drache als ein „Hybrid“ aus vielen Tieren und Wesensformen durch die Lüfte und Gewässer gleitet, mal Feuerwolken speit und mal Fruchtbarkeit und Glück verbreitet, so vielgestaltig-gegensätzlich sind die Protagonisten in Karin Pliems „floralen Kosmologien“1: Blüten, Früchte, Lebewesen aus unterschiedlichen Weltregionen und Habitaten – viele davon sind natürlichen Ursprungs, manche vom Menschen gezüchtet, einige der künstlerischen Phantasie der Malerin entsprungen. Sie sind vermengt mit Versatzstücken anorganischer Natur – wie etwa indigenen Kultobjekten, Fragmenten antiker Skulpturen oder synkretistischen Architekturelementen. Ähnlich wie bei der Konfiguration des Drachens vereinen sich all diese Elemente zu einem jeweils transitorisch-lebhaften Gebilde. Oder, wie der Titel dieser Ausstellung besagt: zu einer „biokulturellen Gemeinschaft“. In der Gestalt eines Kunstwerks zumindest.
Das Wort „biokulturell“ ist dem noch jungen wissenschaftlichen Begriff der biokulturellen Diversität entlehnt: „Das ‚wahreʻ Netz des Lebens ist die biokulturelle Vielfalt: die miteinander verknüpfte Vielfalt des Lebens in der Natur und in der Kultur […]. Diversität in diesem umfassenderen Sinne ist der facettenreiche Ausdruck der schöpferischen Kraft und des Potenzials des Lebens sowohl in der Natur als auch in der Kultur, eine Quelle der Vitalität und Widerstandsfähigkeit des Lebens auf dem Planeten.“2
Diese Erkenntnis deckt sich mit Karin Pliems eigenen Beobachtungen und Erfahrungen, die sie auf ungezählten Wanderungen und Reisen durch nahe und in ferne Welten seit über zwanzig Jahren macht. Das von ihr auf diese Weise geortete „wahre Netz des Lebens“ bringt sie bildsprachlich in immer neuen Konstellationen und Mutationen zur Darstellung. Alles ist hier mit allem verknüpft und zugleich in Bewegung, in wechselseitiger Korrespondenz, mal harmonisch, mal konfliguierend, immer auch „synästhetisch“: Musik spielt mit beim Malprozess und schlägt sich auch in den Bildtiteln – bisweilen als wortspielerisches „scherzo“ – nieder. Frei ist immer auch die Interpretation realer Vorbilder: Farben und Formen dürfen morphen, um neuartige Kreationen entstehen zu lassen. Denn wie der Natur liegt auch der Malerei Karin Pliems Transformation als ein Prinzip zugrunde. Es blüht und vergeht, um in anderer Gestalt wieder neu zu beginnen.
Trotz dieser Freiheit des malerischen Duktus bleiben etliche Bild-Akteure für ihr Publikum identifizierbar. Oft sind dies Vertreter von Flora und Fauna, die im „wahren Netz“ unseres Lebens eine kulturell bedeutsame Rolle spielen. So sind etwa in dem Bild „Ceres“ weltweit verbreitete Agrarpflanzen wie die Sonnenblume, die Banane und der Mohn zu finden. Für deren Gedeih war einst die den Bildtitel gebende römische Göttin des Ackerbaus und der Fruchtbarkeit zuständig, die sich hier in der Gestalt einer antiken Büste hinter anderen blühenden Pflanzen versteckt. Und im großformatigen Triptychon Foresta tropicale in conflitto gedeihen außer tropischen Regenwaldgewächsen auch Ölpalmen, Avocados, Kakao- und Sojabohnen – Pflanzen, für deren agrarindustriellen Anbau tagtäglich riesige Waldflächen brandgerodet werden.
Weniger konfliktuös hingegen empfindet die Künstlerin das Verhältnis zwischen der Natur Brasiliens und der Architektur seiner mitten in dieses Land gebauten Hauptstadt. „Der rechte Winkel zieht mich nicht an, und auch nicht die gerade, harte inflexible Linie, die der Mensch geschaffen hat. Was mich anzieht, ist die freie und sinnliche Kurve, die ich in den Bergen meines Landes finde, im mäandernden Lauf seiner Flüsse, in den Wolken des Himmels …“, sagte Oscar Niemeyer3, der Architekt auch jenes Gebäudes, das im Zentrum des Triptychons ausschnitthaft hervorblitzt aus seinem vegetativen Umfeld. Wie ein Hoffnungsschimmer, dass es auch in unserer hochtechnisierten und zugleich auf die Kombination von nur zwei Zahlen – 0 und 1 – reduzierten Welt Wege in Richtung einer „biokulturellen Gemeinschaft“ geben könnte.
Karin Pliem ist mit ihren Gedanken einer möglichen Symbiose von Natur und Zivilisation auch als Künstlerin nicht allein – gerade in jüngerer Zeit boomt das Thema „Kunst+Natur“ auf nahezu allen internationalen Biennalen, in Kunstmagazinen und Großausstellungen.4 Zumeist auch in Verbindung mit der Kritik am neoliberalen, auf Ressourcen-Ausbeutung und schnellen Profit ausgerichteten Wirtschafts- und Finanzsystems. So sagt etwa der auf Lantau Island/Hong Kong lebende Künstler Zheng Bo: „Es hängt davon ab, ob wir mit anderen Wesen im planetarischen Garten arbeiten oder sie ausbeuten, bis wir alle auf dem kapitalistischen Markt tot umfallen. Es ist an der Zeit, dass wir Kunst nicht als rein menschliche ‚Schöpfungʻ definieren, sondern als die Lebendigkeit von zehntausend Wesen [wanwu].“5
Was Karin Pliems Position dabei von den meisten anderen ihrer Künstlerkollegen unterscheidet: sie arbeitet primär mit dem analogen, traditionellen Mittel der Malerei – einer künstlerischen Sprache, die seit Jahrhunderten als „universal“ gilt, weil sie allen Menschen verständlich ist.6 Und sie spricht über dieses Medium ihr Publikum auf einer gleichermaßen kognitiven wie auch emotionalen Ebene an. Ohne vorgegebenes Zeitlimit vermögen wir einzusteigen in eine sowohl phantastische als auch wirklichkeitsnahe Welt, in der sich Lust und Gedeih, Frust und Verderben auf einem ethisch unbetretenen Teppich begegnen.
Und so wie der chinesische Drache seine Bahnen trotz vieler Widerstände stets wieder findet, findet die Natur in Karin Pliems Kosmologien letztlich immer zu sich selbst zurück. Was sie uns in ihrer – von musikalischen Improvisationen begleiteten – Videoanimation „L’Infinito della Natura“ in auch bewegten Bildern zeigt.
1 Belinda Grace Gardner, „Suchbilder des Seins. Zu Karin Pliems Ausstellung De natura in der Galerie unttld contemporary“, Wien 2019.
2 Luisa Maffi, “Biocultural Diversity, The True Web of Life”, in: Biocultural Diversity Toolkit, Vol. 1, Salt Spring Island/Canada: Terralingua 2014, p. 7.
3 Oscar Niemeyer, 1996, hier zit. nach: Architektur & Wohnen Magazin, Designerlexikon, 20. 1. 2020, www.awmagazin.de/designerlexikon/oscar-niemeyer
4 Vergl. dazu etwa die Beiträge in: [sýn] Zusammen [bíos] Leben. Kunst des Miteinanders als globale Überlebensstrategie. Kunstforum international, Bd. 281, 2022. Anmerkung dazu: Karin Pliem betitelte bereits 2015 eine umfangreiche Werkgruppe sowie ihren 2016 erschienenen Katalog mit „Symbiotic Unions“. S. www.karinpliem.at/de/werke.asp?id=I und www.karinpliem.at/en/texts.asp?ID=11.
5 Zheng Bo, “Art as Multispecies Vibrancy”, in: ArtAsiaPacific, No. 119, 07.2020, p. 15.
6 S. z.B. Franciscus Junius, De Pictura Veterum, Amsterdam 1637, S. 127. Hier zit. nach: https://de.wikipedia.org/wiki/Franz_Junius_der_J%C3%BCngere
* Zuerst publiziert in: Katalog zur Ausstellung Karin Pliem: Biocultural Community, Chengdu, Guangzhou und Beijing, Österreichisches Generalkonsulat Chengdu und Austrian Culture Forum Beijing (Hg.), Chengdu 2022
© 2022 Lucas Gehrmann