Die floralen Kosmologien von Karin Pliem ziehen den Blick hinein in unergründliche Tiefen. Das Auge durchstreift ein scheinbar endloses, verschlungenes, opulentes Terrain aus Blüten und Dolden, Gräsern, Früchten und Lianengewächsen, Mycelen und Moosen. Hinter aufspringenden Blättern, Blumen, Ranken und Farnen schießen ständig weitere Pflanzen hervor, zwischen denen angedeutete Artefakte, afrikanische Figurinen und Masken, die Umrisse von Architekturen, ein Triumphbogen etwa und andere gebaute Strukturen, Tierköpfe und quallenartige Tentakel wie die Überreste einer untergegangenen oder die Anzeichen einer gerade erst im Entstehen begriffenen Welt lugen. Die vielschichtigen, von zarten Farbtönen durchwirkten hybriden Palimpseste der Künstlerin oszillieren an der Kippe zwischen Werden und Vergehen, den Aggregatzuständen der Verfestigung und der Verflüchtigung, aber auch den heute oft gegenläufigen Energien der Natur und Kultur, wobei der Mensch selbst nur vermittelt anhand seiner Erzeugnisse auftritt. In ihrer Malerei (und in daraus hervorgehenden Videoarbeiten) verschmelzen saisonale, gattungsspezifische, historische, geografische und topografische Phänomene zu einer flirrenden visuellen Textur der heterogenen Harmonie oder auch harmonischen Dissonanz, in der die Natur eine dynamische, multikodierte Hauptrolle in wechselnden, auch divergierenden Gestaltgebungen einnimmt.

De natura, „von der Natur“, so lautet der Titel der aktuellen Wiener Ausstellung der Künstlerin. Assoziationen an eine aufklärerische naturphilosophische Abhandlung zum Wesen der Flora klingen darin an. In ihrer Auseinandersetzung mit der Natur im Zusammenwirken und im Aufeinanderprallen mit den Manifestationen der Kultur haben die Überschreitung der Orte und Zeiten sowie der Rückgriff in die Vergangenheit ebenso System wie der simultane Fokus auf die Gegenwart in deren ganzer Brisanz und Komplexität. Karin Pliem lässt der Natur in ihren Bildern einerseits als ungestümer „Spielerin“ freien Lauf, die im turbulenten, ungebändigten Wildwuchs der „schöpferischen Phantasie“1 Gestalt gibt und dem kreativen Individuum seit jeher als Vorbild dient. Andererseits handeln ihre nuancenreichen Tableaus von den feinen Balancen, die unsere Existenz auf diesem Planeten sichern und – außer Kraft gesetzt – wiederum gefährden: Ihre Bilder deuten auf das existenzielle Drama unserer aus dem Lot geratenen Erde, in dem das Gleichgewicht zwischen Natur und Zivilisation, den lebensspendenden Kräften organischen Wachstums und den aus dem Ruder gelaufenen Dynamiken ökonomisch gesteuerter Machtausbreitung zunehmend gestört ist.
Karin Pliem entwirft ein doppelbödiges, post-barockes botanisches Theatrum mundi und vereint auf der Bühne ihrer Bilder die Gewächse der Tropen und der alpinen Berglandschaft, der heimischen Flora und der Vegetation ferner Gegenden wie in einer vegetabilen Wunderkammer. An diesen globusumspannenden Schauplätzen erprobt sie „potenzielle Übereinkünfte von Natur und Zivilisation“,2 deren Gelingen als Möglichkeit greifbar wird, wenn auch ultimativ – auch dies stellt sie in Aussicht – nicht gewährleistet ist. Die Natur/Kultur-Dichotomie wird auch intra-botanisch zur Anschauung gebracht, etwa im Moment, da durch den monokulturellen Anbau von Nutzpflanzen zur Ertragssteigerung die Artenvielfalt verdrängt und ausgelöscht wird. Oder aber in der Zwiespältigkeit giftiger Gewächse, die sowohl heilende als auch gefährliche Wirkung haben können: Auch dies ist eine Frage des Gleichgewichts, der richtigen Potenzierung. Bei aller inhärenter Warnung vor der Gefährdung der Wechselbeziehungen, von deren Austarieren das Überleben von Makro- und Mikrokosmos unseres Selbst- und Weltgefüges gleichermaßen abhängt, zelebrieren die abgründig anmutigen Szenarien der Künstlerin vor allem aber die ganze Fülle des Seins in ihrer Vielfältigkeit und Resistenz gegen die natur- und letztlich auch kulturfeindlichen Auswüchse von Konsum und Kapital. In dieser Hinsicht sind Karin Pliems Suchbilder des Seins, in denen wir uns als Menschen implizit wiederfinden und in unseren Interaktionen mit unserer (Um-)Welt neu begegnen können, beides: hochpolitisch-kritisch und in ihrer vitalen Schönheit von großer Zuversicht erfüllt, auf dass sich die natürlichen Ordnungen stets wiederherstellen und sich die widerstreitenden Phänomene „im Gesamten – im Bild und als Bild – letztlich immer zu einem Verbund“3 fügen mögen.

1 Vgl. Horst Bredekamp, Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte, Berlin 1993, S. 68.
2 Karin Pliem, „Concursus naturae“, in: Destination Wien 2015, Ausst.-Kat., Kunsthalle Wien, Wien 2015, S. 301. (Zit. n.: www.karinpliem.at/de/texte.asp?id=9, 12. Juni 2019).
3 Ebd.