„Immer wieder auf der Suche nach der Mitte“, notiert Karin Pliem 2011 in ihr Reisetagebuch auf der thailändischen Insel Kho Ngai, an deren Stränden sie angeschwemmte Korallenfragmente, vom Wasser erodierte Samenkapseln und Kokosnussschalenrelikte sammelt und zwischendurch getupfte Blätter findet, deren „wunderbares Aussehen diese nach genauerer Betrachtung nicht von der Natur, sondern von angeschwemmten Erdölresten“ erhalten haben. Auch zivilisationstechnisch kontaminierte Natur-Funde solcher Art finden Einlass in ihre botanisch-zoologische Sammlung und später in ihre Bilder, um dort an der für die Künstlerin zentralen Frage der Übereinkünftlichkeit von Dingen, „die scheinbar nicht zusammengehören“, gleichsam disputierend mitzuwirken: sind zum Beispiel Natur und menschliche Zivilisation per se Gegensätze, bedienen sie sich weitgehend inkompatibler Denk-, Sprach- und Gestaltungsweisen, oder gibt es irgendwo eine – wenn uns womöglich auch verborgene – Konkordanz, die vor allem auch jenseits einer hinwiederum vom Menschen erdachten (z.B. theologisch argumentierten …) Meta-Konstruktion zu finden wäre? Die in Karin Pliems Bildern stattfindende Diskussion wird offen, durchaus emotional, doch nie ausschließlich affektiv ausgetragen. Eine aufgrund ihrer form- und farbintensiv exzentrischen Ausdrucksmöglichkeiten zunächst dominante Blüte (deren Vor-Bild aus der Südsee, aber auch aus den Tiroler Bergen stammen mag) versucht selbstsicher die Mitte im Bild zu ergattern, erkennt aber im Disput mit einem skelettierten Fischkopf, dessen Argumente von gestrandeten Tintenfischen unterstützt werden, ihre Relativität im Kontext von (Bild-)Raum und Zeit – und begnügt sich daher mit einem Platz am Rande des Zentrums. Gischtweiß sprühend bemühen sich fallende Wasserkaskaden um die Eroberung der vorderen Bildebene, zerstäuben aber am koloristisch verstärkten Disegno einer aufgeschnittenen Orange, welche, da die Tropfenschleier ihre Farbkraft doch etwas zu dämpfen vermögen, leuchtgelbe Säfte aktiviert, um ihre Präsenz im Bild stabilisieren zu können. Zugleich bringt sie dadurch Dynamisierung ins Geschehen, welche die Malerin folgendermaßen begründet: „Gelb kommt mit Graublau ziemlich in Fahrt“. Wobei aber auch gilt: „Grau gleicht aus: Harmonie.“ …

Die Debatte endet nicht mit einem Bild, sie setzt sich im nächsten fort, und oft auch findet sie gleichzeitig auf zwei Podien statt, wenn nämlich die Malerin an zwei Leinwänden parallel arbeitet. „Die Mitte kann überall passieren, das Zentrum im Bild ist kein Muss!“, wirft die Künstlerin ein in die Diskussion, deren Leiterin sie zwar ist, ihren Verlauf aber nicht vor-schreibt, indem sie etwa präzise Bild-Entwürfe vorgäbe. Vielmehr entsteht jedes Bild „im Flux“, manchmal rasch (innerhalb weniger Tage), manchmal ganz sachte, indem alle Argumente aller hinzutretenden Mitwirkenden sorgfältig verglichen, relativiert und letztlich so zusammengeführt werden, dass das Bild in sich stimmt – und damit auch seine „Mitte“ hat.

Karin Pliems Suche nach der Mitte ist somit nicht zu verwechseln mit der romantisch-sehnsüchtigen Suche nach einer Mitte als ein der Natur und dem Menschen übergeordnetes (göttlich-abstraktes) Prinzip, das sich in unserer kartesianischen Welt dem menschlichen Bewusstsein zusehends entrücke – welche Entfremdung von der Natur im höheren Sinne eine (ethische) Desorientierung des Menschen bedinge. Karin Pliem orientiert sich auf ihrer Suche vielmehr an dem, was sie zunächst beobachtend wahrnimmt und empfindet. Dabei ortet sie vor allem die Notwendigkeit, wohl aber auch das Potenzial eines Weges zur einvernehmlichen Korrespondenz der in unserer Zivilisation als widersprüchlich erachteten und in der Praxis gegensätzlich verhandelten äußeren wie inneren Erscheinungen. Die Suche nach dieser Mitte tritt sie an, indem sie jenen (als Potenzial) georteten Weg direkt betritt: dort schreibt sie weder Manifeste noch Rezepte, sondern bedient sich der poetischen Sprache der Malerei, eines also vielgestaltigen Artikulationsmediums, das kognitive wie un(ter)bewusste Prozesse gleichermaßen zum Ausdruck zu bringen vermag.

„Dort“ – der „Weg“ – ist also die Leinwand, auf der zuerst mit gestisch offenem Strich eine Raum- und Licht-Idee farblich angelegt wird wie eine den Modus der bevorstehenden Bild-Debatte ankündigende Kulisse. Vor, auf und über dieser konfigurieren sich alsdann die aus der Erinnerung, aus dem Skizzenblock, der Botanikbox oder dem Fotoalbum auftretenden Protagonisten, indem sie wie oben beschrieben um ihre Position auf der Bildbühne debattieren und dabei ihre Dimension, Farbe, Ausdruckskraft, Bewegung … bisweilen bis an die Grenze zur Abstraktion verwandeln. „Dadurch, dass ich meine Motive in Größe, Farbigkeit und Perspektive verändere, breche ich festgefahrene Seh- und Denkweisen auf“, sagt die Künstlerin, woraus ersichtlich wird, dass sie eben nicht nur bildimmanent denkt und arbeitet auf ihrer Suche nach der Mitte – vielmehr laufen Werkgenerierung und Wegefindung parallel, die inhaltliche Intention bleibt im Auge, auch oder gar umso besser, als der Weg keine Gerade ist: „Der Bruch macht die Spannung im Bild und führt wieder zur Mitte, der Bruch führt zur Emotion und Emotion verbindet und Verbindung führt wiederum zur Mitte, für die die Verbindung lebensnotwendig ist“, notiert Karin Pliem in ihr Reisetagebuch, wo sie diesem loopenden Gedanken an anderer Stelle einen markanten Punkt verpasst: „Die Mitte bin ich.“ Dieser Punkt wird gemeinhin übersehen, kaum einmal mitgedacht zum Beispiel bei der Beschreibung, Berechnung und „Konstruktion“ von Welt: das Zentrum der jeweiligen Betrachtung ist immer ein Ich, und das Ich ist es auch, das von anderen Ichs erstellte Betrachtungen rezipiert. Darin liegt wohl die Crux mit der Objektivität, der „Wahrheit“, der Wirklichkeit … begründet: dass wir von ihrer Relativität zwar theoretisch Bescheid wissen mögen, unsere Ichs aber als zu vernachlässigende „subjektive“ Faktoren nicht einbeziehen in das Geflecht der Relationen. Karin Pliems daher womöglich lapidar erscheinende Erkenntnis, selbst die Mitte zu sein, ist gerade in Verbindung mit ihrer bildübergreifenden Suche nach der Mitte von hoher kognitiver Brisanz: denn diese eine Mitte, als die sie sich selbst erkennt, ist immer und überall dort, wo die Künstlerin (das Subjekt) zugegen ist. Diese Ich-Mitte ist das mobile, flexible und sich interaktiv verändernde Zentrum des jeweils betretenen Ausschnitts von Welt, und sie ist gleichermaßen die Reflexions- und Handlungszentrale. Jene Mitte aber, der Karin Pliem (malerisch agierend) nachgeht, ist auch außer ihr – sowohl als eine Idee, die von anderen Ichs ebenfalls gedacht werden kann und gedacht wird als auch als ein sich im Bild jeweils (visuell-sprachlich) manifestierender Gedanke, ein prozessual Gestalt annehmendes Konstrukt mannigfaltiger Relationen. Jene Mitte, ob als Idee oder als Bildgedanke, kann überall sein, unabhängig also von der Mitte-Ich-Position ihrer Schöpferin. Karin Pliems Bild- und Gedankenwelt offeriert uns daher (über ihre eigene Arbeit hinaus) die Existenz von (mindestens) zwei Mitten, wobei wir zugleich angehalten werden mögen, eine dritte Mitte nicht zu unterschlagen, diejenige also unserer Position als (nicht nur rezipierendes) Ich. Wo nun mehrere Mitten sind statt nur einer, gerät und bleibt das System in Bewegung. Wobei die Debatte um die Mitte durchaus fortgeführt werden kann, so wie dies auf Karin Pliems Bildern und mit ihr weiterhin geschieht. Mit Blick auf ihre Arbeit der vergangenen Jahre, bei der es so wie heute um die Suche nach der Mitte ging, zeitigt sich in ihrem jüngeren Schaffen eine in alle Richtungen gehende Dynamisierung des Bildgeschehens. Waren früher noch einzelne Elemente aus ihrem Fundus an Naturalien formal und/oder farblich weitgehend autonom und deutlich determiniert, so unterliegen sie jetzt zusehends einem Prozess des Morphens, der Transformation ihrer Gestalt, der sie bisweilen an die Grenze zur Auflösung treibt. Ihre Identität bleibt zwar bestehen, es ist aber eine je changierende Identität, die sich in Relation zum Changieren der anderen Identitäten stets neu zu konstituieren scheint. Stabilität und Dynamik, Schärfe und Unschärfe, Konstruktion und Dekonstruktion reichen sich hier und jetzt die Hände – denn im Bild geht es ums Ganze, das nicht im Kampf des Einzelnen um die Mitte erreicht wird, sondern durch korrespondierenden Einsatz der je verfügbaren Mittel aller Beteiligten.

© Lucas Gehrmann, Wien 2011.
Zuerst publiziert in: Karin Pliem. Auf der Suche nach der Mitte. Wien 2011, S. 3f.