Was wir auf Karin Pliems Gemälden abgebildet sehen, sind zunächst vegetabile Formen, vor allem Blumen. Ohne botanisches Wissen können wir allerdings nur erahnen, dass es sich um Pflanzen aus unterschiedlichsten Regionen und Ökosystemen der Welt handelt, die auf einem Bild versammelt sind.
Aus der Kunstgeschichte kennen wir Zusammenstellungen und Arrangements von Blumen aus der Tradition des Stilllebens, innerhalb derer sich das Blumenstillleben von den Niederlanden ausgehend um 1600 weithin etablierte. In einer Vase arrangierte Blumen finden wir zunächst klar geordnet vor dunklem Hintergrund etwa bei Jan Bruegel dem Jüngeren, der auch in der Werkstatt von Peter Paul Rubens für die Blumen zuständig war; später als rokokohaft überbordendes Bouquet in reichem Dekor auf den Gemälden Jan van Huysums aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Édouard Manet, Odilon Redon, Lovis Corinth oder Max Beckmann sorgten dafür, dass das gemalte Blumenstillleben auch in der Moderne eine lebendige Bildgattung blieb. Manchmal füllen die Blumen das Bild weitgehend aus, aber nie so zahlreich und verdichtet wie auf Karin Pliems Gemälden, welche die Künstlerin auch nicht als Stillleben auffasst.

Das fast wissenschaftliche Interesse der Künstlerin an den verschiedenen Blumenarten lässt noch am ehesten an die Stilllebenbilder bei der Malerin und Naturforscherin Maria Sibylla Merian denken, die Pflanzen und Insekten so akkurat ins Bild setzt, dass die Grenze zwischen Stilllebenkunst und wissenschaftlicher Illustration verschwindet.
Doch einen größeren Unterschied zu Karin Pliems Darstellungsweise kann es kaum geben. Diese erscheint so präzise, dass Kenner die einzelnen Pflanzenarten sicher eindeutig identifizieren können – oder könnten, denn es sind auch viele Gewächse darunter, die in dieser Form letztlich der Fantasie der Künstlerin entsprungen sind. Trotz aller Genauigkeit der Detailwiedergabe sind die mit dem Pinsel gezogenen Formen und auf ihre Gesamtwirkung im Bild abgestimmten Farben eher malerisch als zeichnerisch aufgefasst und mit der Freiheit der Strichlagen in der Tradition der Moderne stehend. Die Kompositionen erinnern dabei weniger an moderne Blumenstillleben als an Bilder, die Blumen in ihrer natürlichen Umgebung zeigen, etwa von Claude Monet oder Emil Nolde, die die Pflanzen in ihrem eigenen Garten malten und sich dabei besonders auf deren intensive und differenzierte Farbigkeit konzentrierten.

„Modern“ erscheint an Karin Pliems Bildern auch, dass sie weitgehend flächenhaft komponiert sind. Den Raum, in dem sich die Pflanzen befinden, können wir selbst nicht sehen, weil ihre Verdichtung den Blick in die Tiefe nur an manchen Stellen freigibt und eine klare räumliche Verortung unmöglich macht. Vergleichbares findet sich traditionell aber auch bei ornamentalen Raumdekorationen, vor allem den „Grottesken“, die von den antiken Wandmalereien inspiriert waren, die man in den ab 1480 ausgegrabenen Ruinenhöhlen (Grotten) auf dem Gelände der Thermen des Titus in Rom entdeckt hatte. In der „grottesken“ Ornamentik verbinden sich stereometrisch-abstrakte und architektonische Formelemente mit Tier- und Pflanzenmotiven zu immer neuen spielerischen Verkettungen. Nichts ist eindeutig, eines verwandelt sich in das andere. Der Eindruck, dass wir nur einen festgehaltenen Moment in einem sich ständig verändernden Geschehen sehen, entsteht auch bei vielen Bildern Karin Pliems. Deren ungeheure Detailfülle, bei der man bei mehrmaligem Hinschauen immer wieder Neues entdeckt, was man bisher übersehen hatte, erinnert auch an die um 1500 aufgekommene Bildgattung der „Weltlandschaft“. Die dort dargestellten Städte, Berge, Täler, Flüsse, Seen stehen für das Ganze der Welt, das sich wie auf einem Bild verdichtet zusammengezogen hat. Lassen sich Karin Pliems „Wimmelbilder“, die unterschiedliche Pflanzen aus aller Welt auf einem Bild versammeln, als heutige botanische Weltlandschaften interpretieren? Darauf kommen wir später noch zurück. Zunächst lösen wir den Blick vom motivischen Detail und richten ihn mehr auf die Gesamtkomposition, die dann als eine fast gleichmäßige abstrakte Struktur, ein All Over, erscheint. Gleichwohl gibt es stets kompositorisch hervorgehobene Bereiche, auf die sich der Blick zunächst richtet. Dies bedeutet jedoch keine hierarchische Ordnung, denn alle Bildelemente sind insofern auch wieder gleichwertig behandelt, als dass alles mit allem zusammenzuhängen scheint. Kleine oder kleinste Elemente werden in systematischen Reihen angeordnet oder vernetzt, verketten, verdichten sich, und dies kann zu völlig unterschiedlichen kompositorischen Spannungszuständen führen. Auf neueren Bildern wie Ceres oder Cigno con animo riposando herrscht eine vertikal verankerte oder in einer kreisenden Anordnung beruhigte Gesamtordnung, während sich bei Incontro con architettura II in der Mitte ein Durchblick öffnet wie ein durch Bäume oder architektonische Elemente gebildeter Rahmen in einem Landschaftsgarten. Bei Unisono oder Inbridazione spaziosa, beide 2013 entstanden, herrscht eine das ganze Bild und die einzelnen Pflanzenformen fast gegeneinander führende Dynamik, die an die frühen abstrakten Bilder Kandinskys oder die Kämpfenden Formen von Franz Marc erinnert. Auch entsteht fast der Eindruck eines kosmischen Geschehens.

Die Blumen sind die „Akteure“, Menschen sind auf Karin Pliems Bildern nie zu sehen. Dies scheint einem aktuell an Bedeutung gewinnenden Weltbild zu entsprechen, das Tiere, Pflanzen und die Natur als Ganzes nicht aus der Sicht der Menschen und ihrer Gefühlswelten zu betrachten, sondern autonom zu verstehen sucht. ,Ähnliche Grundgedanken wurden schon Mitte des 19. Jahrhunderts formuliert. Der englische Kunstschriftsteller John Ruskin kritisierte die Tendenz des Menschen, seine Gefühle in die Natur zu projizieren, was er „pathetic fallacy“1 (Vermenschlichung der Natur) nannte. Das von ihm bewunderte Gegenbeispiel war die Darstellungsweise seines Lieblingsmalers William Turner, von der er meinte, dass sie der Natur objektiv gerecht werde. An eine einzige objektive Sichtweise der Natur glauben wir heute nicht mehr. Aber dass die menschliche Herrschaft und Perspektive auf die Gesamtheit des organischen Lebens relativiert werden sollte, ist eine Ansicht, die auch Carolyn Christov-Bakargiev als künstlerische Leiterin der dOCUMENTA (13) vertritt. Ihr nachhumanistisches Weltbild, das alle Lebewesen als gleichwertig ansieht, kam in Aufsehen erregenden Äußerungen wie dieser zum Ausdruck: „Meiner Meinung nach dürfen sich in einer wahren Demokratie alle äußern. Die Frage ist nicht, ob wir Bienen oder Erdbeeren die Erlaubnis zum Wählen erteilen, sondern wie eine Erdbeere ihre politische Intention vorbringen kann.“2 Auch andere gemeinhin gemachte Unterschiede wie dem zwischen menschlichen und tierischen Erzeugnissen, etwa zwischen einem Kunstwerk und einem Bienenstock, lässt Christov-Bakargiev nicht gelten: „Ich denke nicht, dass die Werke der Menschen besser sind als andere Werke. Auch Ihr Körper steckt voller Bakterien, ist besetzt von anderen Lebewesen, Sie sind von anderen Realitäten durchdrungen.“3

In der Realität der Pflanzen, wie Karin Pliem sie uns vorführt, scheinen diese ineinander zu wuchern wie in der freien, nicht von gärtnerischer Hand domestizierten Natur. Aber was auf den ersten Blick wie spontaner Wildwuchs erscheinen mag, entpuppt sich als eine bis ins kleinste Detail durchchoreographierte Ordnung. Es ist eine Ordnung, die so in der Natur nicht vorkommt, denn das Nebeneinander der Pflanzen aus fernab voneinander liegenden Biotopen ist eine ähnliche Fiktion wie die „Weltlandschaft“. Doch handelt es sich um eine Fiktion, die sich als auch als Metapher für das gelungene Zusammenleben von Menschen aus verschiedensten Kulturen interpretieren ließe. Aber wäre das nicht, mit John Ruskin gesprochen, ein „pathetic fallacy“, eine Projektion menschlicher Gefühle und Verhaltensweisen in die Natur? Man könnte es auch umgekehrt sehen: Vielleicht sollten wir von den Pflanzen lernen, die auf Karin Pliems Bildern ihre Konflikte friedlich austragen, als eine Art botanische Weltgesellschaft, deren Bürgern man wohl ohne Bedenken das Wahlrecht erteilen könnte.

1 Die zentrale Passage, in der Ruskin seine Kritik am „pathetic fallacy“ darlegt, siehe: The Works of John Ruskin, hgg. von E. T. Cook und Alexander Wedderburn, London 1900 ff., Band V, Modern Painters III, S. 205.
2 Interview mit Kia Vahland, Süddeutsche Zeitung, 8. 6. 2012 (www.sueddeutsche.de/kultur/documenta-leiterin-carolyn-christov-bakargiev-ueber-die-politische-intention-der-erdbeere-1.1370514, abgerufen: 5. 7. 2016), S. 1.
3 ebd., S. 2.

* Ludwig Seyfarth, „Eine Weltgesellschaft der Blumen“, in: Karin Pliem: Symbiotic Unions, Hohenems–Wien–Vaduz: Bucher Verlag 2016, S. 21-23 (d). ISBN 978-3-99018-387-8

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