Karin Pliems Malerei berührt den Betrachter auf eine unmittelbare und ursprüngliche, gänzlich unerwartete Weise. Ohne jeden Umweg blickt man direkt in eine betörende Bilderwelt des Blühens und Vergehens. Bekannte und fremdartige Pflanzenformen schweben in einem undefinierbaren Bildraum ohne Tiefe, oft nur angedeutet von Wolken und diffusen weißen Schleiern. Erregende Violett-Töne stehen neben Altrosa und Bernsteingelb, durchwachsen von hellem Blau und tiefem Karmin. Blätter entfalten sich und verwelken, bilden in der Bildmitte ein kraftvolles Energiezentrum. Das Betrachten dieser Bilder löst fast euphorische Lustgefühle aus. Und das schafft – wie jede anspruchsvolle Kunst – ein durchaus angespanntes Verhältnis zur Alltagsrealität. Diese Spannung zwischen der entwaffnenden, ins Phantastische gesteigerten Präsentation der Grundlagen unseres Lebens – die menschliche Kultur entstand ja nicht zuletzt durch das sinnliche Schauen und Schmecken von Pflanzen – und den erlernten Praktiken der Kunstrezeption macht einen Teil der starken Wirkung dieser Bilder aus. Denn nach einigen hundert Jahren Kunstgeschichte haben wir das unbefangene und lustvolle Bilderschauen gründlich verlernt. Was noch in der mittelalterlichen Buchmalerei als Paradiesgärtlein oder Rankenornament ein ganz selbstverständlicher Teil der damals spirituell orientierten Ästhetik war, das wurde später in immer neuen Codierungen „künstlicher“ Kunst zum vielfach aufgeladenen Element einer neuen westlichen Bilderwelt. Ohne doppelten Boden und ambivalente Interpretationsmöglichkeiten kann diese Sprache nicht mehr kommunizieren.
Diesen gordischen Knoten der Entfremdung der Kunst von unseren emotionalen Grundlagen versuchte die Moderne seit Gauguin radikal zu durchschlagen. Scharfe Zivilisationskritik und große Begeisterung für Ursprungsmythen, denen viele Maler in exotischen, vorindustriellen Gesellschaften nachgingen, waren dafür die Mittel der Wahl. Fauvismus und Expressionismus, die auf diesen Pionieren einer vorgeblich unkompromittierten Welt- und Natursicht aufbauten, forderten ebenfalls das Verlernen unserer europäischen Kultur als einzigen Weg zur emotionalen und kulturellen „Heilung“ des (westlichen) Menschen. Nach der Moderne wissen wir aber, dass es eben keine unbelastete Weltsicht mehr geben kann und dass Kunst noch niemanden geheilt hat. Sind die späteren Publikumserfolge eines posthumen Aufbäumens der Lebensreform-Ideale, wie sie etwa der Schamanismus von Joseph Beuys inszenierte, nur eine aussichtslose Trotzreaktion gegen die unausweichliche Ernüchterung?

Karin Pliems Projekt entzieht sich dieser historischen Polarisierung zwischen diskursiver und „naiver“ Kunst. Es ist durchaus anders gelagert, klarer, einfacher, direkter – und damit auch glaubwürdiger und vielleicht sogar authentischer. Als Kind – sie ist als Tochter eines Malers im Salzburger Land aufgewachsen – bewunderte sie hinter dem Haus eine Königskerze und dachte: „Wenn ich die abbreche, dann sterbe ich“. Diese profunde Identifikation mit dem Vegetabilen konnte Pliem in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren ihrer Malerlaufbahn klären und ausbauen. Vorher lernte sie noch Textilkunst und Bildhauerei an Kunstschulen in der Schweiz und in Frankreich. Aber bald schon war klar, dass die Malerei ihre eigentliche Berufung ist, der sie an der Wiener „Angewandten“ bei Carl Unger folgte.
Pliem geht auf ihrer permanenten Suche nach kraftvollen Motiven weit: Reisen führten sie bis Tonga und Südthailand, wo das Opulente der Standard ist. Schon 1997 sagte sie über ihr Maler-Leben in Ostasien: „Leben ist für mich inmitten dieser Vielfalt arbeiten, malen, mich spüren. Ich sein.“ Leben, Erleben und Kunstproduktion sind also eins und fließen ganz natürlich, ohne mühsame theoretische Konstruktionen ineinander.
Die dabei entstehenden Bilder können leichter in eine Formtradition gestellt werden als in eine inhaltliche. Von James Ensor und Emil Nolde über Chaim Soutine bis zu Egon Schiele, Albert Paris Gütersloh, Broncia Koller, Max Weiler und Gerhild Diesner reicht die europäische und österreichische Tradition der Faszination von meistens symbolisch erlebter Flora und Fauna. Doch wie ist es um die Inhalte bestellt? Die Moderne deckte mit ihren Tier- und Pflanzenbildern sowie deren abstrakten Derivaten bislang das weite Inhaltsspektrum zwischen Dämonie und Melancholie, Euphorie und religiöser Entrückung ab. Keine dieser Gefühlslagen jedoch entspricht dem nahezu symbiotischen Gleichklang mit ihren Motiven, den Pliem zwischen Tropenwald, Wasserfall und Marktplatz zu evozieren vermag. Vor vierzehn Jahren tat sie das noch vorsichtig-tastend, in flächiger Farbfeld-Malerei. Seither wuchs die Sicherheit und mit ihr die Plastizität. Mithilfe grafischer Mittel kann Pliem nun nicht nur Farben und Formen, sondern auch die Konsistenz der Naturchiffren – selten sind es realistische „Porträts“ von Blättern und Blüten – malerisch darstellen: Straffe Konturen stehen für Hartes, verlaufende Pinselstriche für Weiches. Wo sich dieses Bildgeschehen zuträgt, ist sekundär: „Raum ist dazu da, den Elementen ihren Platz zu geben, nicht um etwas auszusagen“, sagt Pliem.

Diese sympathische Abstinenz gegenüber dem Pathos der Moderne deutet auch eine gewisse Skepsis gegenüber den spirituellen Dimensionen an, die etwa Max Weiler in seinen Natur-Metaphern stets mit-transportierte. Es sind keine belehrenden Bilder, sondern handfeste und physisch greifbare Dokumente einer individuellen Beziehung, die kraftvoll genug ist, jedermann in ihren Bann zu ziehen. Die Kombination des „westlichen“ Gestaltungsmittels einer subtilen und plastischen Ölmalerei mit der „östlichen“ Selbstverständlichkeit der inneren Interaktion alles Lebendigen versetzt Pliem in die Lage, ihr Empfinden sofort und unmittelbar zugänglich zu machen.
Daran liegt die Kraft, die Innovation und die Beständigkeit ihrer Kunst begründet. Fernab jeder Spekulation zeigt sie einen viel versprechenden Weg in die Zukunft der Malerei und der Bildkunst im Allgemeinen, der vor dem Hintergrund der digitalen Revolution immer unausweichlicher erscheint: Jeder Geist, jedes Gefühl wohnt in organischer Materie, und nur ihre kreative Beschreibung kann uns direkt mit der Natur in Verbindung bringen.

© Matthias Boeckl, 2010. Zuerst publiziert in: Karin Pliem. Gegen den Strom, Galerie Elisabeth Michitsch (Hg.), Wien 2010, S. 4f.